
Schnee? Hatten wir bis zum frühen 4. Advent, eine Art Entwurfsskizze für Weihnachten, wenn auch schnell als wunsch-, aber nicht zeitgemäß verworfen.
Nur in unserem Schaufenster blickt noch immer Reh auf Schnee, den Schnee von gestern, und so zitieren wir aus Ted Hughes' bei Hanser neu erschienenen ausgewählten Gedichten* und wünschen ein gutes, alltäglich-festtägliches neues Jahr mit Bodenkontakt und dezenter Schwerkraft!
Rehe
...
'Dann duckten sie sich durch die Hecke, ritten aufrecht die eigenen Beine
Den Hang hinab übers schneeverwaiste Feld,
Dem Baumdunkel zu - bis sie schließlich
Zu wirbeln schienen, rutschten, aufwärts flogen
Ins Brodeln dichter Flocken.
Der Schnee verschluckte sie wie bald auch die Hufabdrücke,
Korrigierte seine eigene Eingebung
Zurück ins Alltägliche.'
*) Ted Hughes: Wodwo. Ausgewählte Gedichte, aus dem Englischen übersetzt von Jan Wagner. Hanser Verlag 2022
(DAS REH, siehe oben, ist einem Gemälde von Carl Schweninger entsprungen. Es ziert das gleichnamige Buch von Rudolf Neumaier, untertitelt: Über ein sagenhaftes Tier, Hanser Verlag 2022, und unser Fenster.

Jauchzet, frohlocket?
Wir nutzen die Gunst der Stunde, in Zeiten der zunehmenden Verdunkelung und Verwirrung wenigstens ein Rätsel der Musikgeschichte aufzuklären: Aus wessen Feder nämlich das Libretto zu Bachs Weihnachtsoratorium geflossen ist. Wir berufen uns auf ein Arbeitsgespräch zwischen J. S. Bach und Luise Gottsched, das wir nur in Auszügen wiedergeben, im vollen Wortlaut notiert von Angela Steidele, die uns zum 1. Advent einen fulminanten Vortrag bot und bescherte.
'Grob sind Sie ja schon unterrichtet, Madame. Die Weihnachtsgeschichte, erzählt vom Evangelisten Lukas. Wie Sie wissen, will ich die Musik zweier Kantaten wiederverwenden, denen wir, das heißt Sie, neue Wörter unterlegen. Hören Sie zu und lesen Sie die Partitur mit .. Und lesen Sie sich diese beiden Kantaten noch einmal aufmerksam durch, auch die Gesangbücher für die Choräle und die Liste mit den jeweils vorgesehenen Lesungen aus dem Evangelium. Ach, und Mme Gottschedin, schauen Sie doch auch in die Partitur meiner Köthener Trauermusik, die ich mit Henrici in meine Matthäuspassion verwandelt habe. Vielleicht ein gutes Vorbild für Sie. Und das Fest der Beschneidung Christi werden Sie irgendwie zur Taufe ummodeln, Mme Gottschedin, ja?'
Frohe Weihnachten!
Wir danken Klaus Giebel für die Fotos!

maKULaTUR lädt ein ins pulsierende und taktierende Leipzig Johann Sebastian Bachs. Mit ‚Neuestem aus der anmuthigen Gelehrsamkeit‘ tritt Angela Steidele epochenübergreifend am 26. November im Haus Eden in unsere Gegenwart. Die Autorin liest aus ihrem neuen Roman AUFKLÄRUNG, Daniel Fritzen sekundiert ihr am Steinway.
Aufklärung? Eine Zeitlang konnte es den Anschein haben, als glücke es einer Allianz aus Kunst, Vernunft und Wissenschaft, die menschlichen Geschicke allmählich in die Spur zu rücken.
In Gestalt der ältesten Tochter Bachs mischt sich die versierte Erzählerin musik- und zeitgeschichtlich hochgerüstet unter die komponierenden, interpretierenden, publizierenden, dichtenden, spracherneuernden, forschenden, lehrenden, schönen und leidenschaftlich streitenden Geister im Leipzig des 18. Jahrhunderts, Zentrum des Verlagswesens und Wirkungsstätte Bachs.
Requisiten, Personal und Repertoire fliegen der Chronistin reichlich zu zwischen Zimmermannischem Kaffeehaus, Jungfernkammer in der Thomasschule, Breitkopfs Musikalienverlag, Salons, Gesangsstunden, Studierstuben, Wanderbühnen und Leipziger Markt und Messe. Es treten auf: selbstverständlich die vielen Bachs, die Gottscheds kinderlos, unleidlich Lessing, die Neuberin, Theaterprinzipalin samt Entourage, Friedrich II., die dichtende Mimose Gellert, nebenbei Klopstock, Goethe als Erstsemester, nur die Geläufigsten zu nennen.
Politische Turbulenzen, künstlerische Konkurrenzen und galante Sperenzchen. Anlass, die epochemachenden Leipziger Zirkel mitsamt ihren Disputen, Plaudereien und Sticheleien aus der nahen Vergangenheit zu heben, ist für Dorothea Bach ein tiefes Bedürfnis, das Verdienst der verehrten Dramatikerin, Übersetzerin und Femme de Lettres Luise Gottsched rückblickend ins rechte Licht und Verhältnis zu setzen: Die eitlen Erinnerungen des Sprach- und Theaterpapstes Johann Christoph Gottsched an seine 1762 früh verstorbenen Ehefrau, deren Genie er allzu großzügig dem eigenen Konto zuschlägt, sind ihr ein Stein des Anstoßes – aus intimer Kenntnis heraus und im Zeitalter des hochgelahrten Frauenzimmers allemal.
Bei aller wohltemperierten Rede und Gegenrede bleibt eine Stimme vernehmlich im polyphonen Wechselgespräch: der Generalbass, Bachs Cembalo.
»… ein üppiges Tableau geschickt platzierter historischer Fakten und poetischer Fantasie, das Angela Steidele mit fulminantem szenischem Gespür und dem Witz einer völlig heutigen, aber mit den Eigenheiten des 18. Jahrhunderts spielenden Sprache in Bewegung bringt.« Aus der Begründung der Jury, Dieter-Wellershoff-Stipendium 2021
Siehe auch Angela Steidele: "Aufklärung. Ein Roman" - Das Licht der Vernunft | deutschlandfunk.de | Erschienen im September 2022 bei Insel, 603 Seiten, gebunden 25 EUR
Eine Veranstaltung unserer Buchhandlung. Anmeldung erbeten unter buchhandlung@makulatur.com oder 0451-70 79 971
Eintritt 10 EUR.
Abb.: Collage unter Verwendung des Buchcovers (RG)

Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur hat das Buch des portugiesischen Autoren-/Illustratorenduos 'Der Krieg' zum 'Bilderbuch des Monats August 2022' erklärt und ausgezeichnet:
"Was ist Krieg? In eindringlichen Bildern sowie kurzen Sätzen wird gezeigt, was der Krieg nicht kann, was er jedoch anrichtet. Dabei ist der Krieg ein beständiger Begleiter der Menschen. Poetisch in Text und Bild lässt das Bilderbuch Raum für Gedanken, Gefühle und lädt zu einem philosophischen Dialog ein. Ein wichtiges Bilderbuch!" (Deutsche Akademie für Kinder- u. Jugendliteratur)
Wir haben, selbst sehr beeindruckt, Doppelseiten aus diesem so treffend illustrierten Buch gleich nach Erscheinen im Frühjahr diesen Jahres im Schaufenster ausgestellt. Dort sind sie auch weiterhin zu sehen.
José Jorge Letria (Jahrgang 1951), ein in Portugal bekannter und preisgekrönter Buchautor, Dramatiker und Journalist, ist Präsident des Portugiesischen Schriftstellerverbandes.
Sein Sohn André Letria (Jahrgang 1973) wurde in Lissabon geboren und ist seit 1992 Illustrator sehr erfolgreicher Kinder- und Erwachsenenbücher. In den USA, England, Spanien und Italien hat er zahlreiche Bücher illustriert, seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet.

Ich war Übersetzer in Minsk. Bericht von 2015
Ich habe die legendäre Nachtsitzung, die zwar nur zu einem Scheinfrieden (...) führte, miterlebt. Ich bemerkte, daß die Kanzlerin den russischen Präsidenten genau beobachtete. Es war in der vierten Nachtstunde. Außer ihr war niemand im Raum mehr hellwach. Ich befragte die Kanzlerin später im Flugzeug. Sie habe geprüft, sagte sie, ob an der Sitzhaltung und an den Gesichtsmuskeln des Präsidenten - sie könne sie lesen, obwohl Putin ein Pokergesicht, eine Maske aufrechtzuerhalten suche, die Bewegungen der Gesichtsmuskeln unterlägen aber nicht der Willenskraft - eine plötzliche Versteifung, eine 'Verrücktheit' festzustellen sei, die ein Scheitern der Verhandlung besiegele (..). Der russische Präsident schien der Kanzlerin 'wie in einem kommunikativen Käfig gefangen'. Die Kanzlerin hielt ihn, so ihre Mitteilung später auf dem Rückflug, nicht für einen einsamen Entscheider. Eher meinte sie, dass seine Entschlüsse wie im Gelärm einer tobenden Schulklasse in einer Schulpause zustande kämen. Ob er verlässlich sei? Das wisse sie nicht, hoffe es aber von Fall zu Fall.
aus: Alexander Kluge, Russland-Kontainer, Suhrkamp 2020, S. 387
Die Abbildung zeigt: 'Kolonne des Fortschritts' von Katharina Grosse, nach einem Motiv von James Ensor, enthalten in Kluge: Russland-Kontainer s.o.

"Geh doch hin, lieber Leser*, noch steht das zauberische Landbild da, mit Schnee auf seinem lieblichen Antlitz. Man darf nur nie zu träge sein und sich vor ein paar hundert Schritten nicht fürchten, zeitig aus dem Faulenzerbett aufstehen, sich auf die Glieder stellen und nur ein wenig hinauswandern, so sieht sich das Auge satt, und das freiheitsbedürftige Herz kann aufatmen. Geh hin zu der artigen Schneelandschaft, welche dich wie mit einem schönen freundschaftlichen Munde anlächelt. Lächle auch du sie an und grüße sie von mir."
Robert Walser in der Vossischen Zeitung 1914, abgedruckt in 'Robert Walsers Wälder'. Insel-Bücherei Nr. 1477.
Wir wünschen den lieben Lesern und Leser*innen ein nimmersattes Auge und zauberische Weihnachtstage!
Die Postkarte oben (auf Kenya Hara: Weiss, Kapitel 1) zeigt ein Foto von Rosemarie Zens, veröffentlicht in 'The Sea Remembers', Kehrer Verlag 2014

Ein Katalog Tannenbäume zum Aussuchen? Im Advent deuten wir uns die Dokumente einer experimentellen Walderkundung, abgebildet in 'Sheung Yiu - Ground Truth', leichtfertig um und ergänzen die digital isolierten Baumsilhouetten um ein Foto aus 'Earth, Wind, Fire, Water' (fotografiert von Karoline Hjorth und Ritta Ikonen) zum vorweihnachtlichen Schaufensterensemble mit Mrs Sim im verschneiten Geäst - ganz im Sinne der Recherche, die zwischen visueller Technologie, menschlicher Wahrnehmung und realer Umgebung vermitteln will.
Näheres siehe 'Sheung Yiu - Ground Truth' (The Eriskay Connection und Kone Foundation 2021) und Randi Grov Berger, Tonje Kjellevold: 'Earth, Wind, Fire, Water. Nordic Contemporary Crafts. A Critical Craft Anthology' (Arnoldsche 2020), beides unter 'scandinavia'

Der USA-Experte Bernd Greiner, Prof. em. für Neueste Geschichte, stellt seine im Oktober bei C.H. Beck erschienene scharfe Analyse amerikanischer Ordnungspolitik vor:
Made in Washington - Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben.
Wie der Untertitel verspricht, erwartet Sie eine verheerende Bilanz amerikanischer Politstrategien, „verdichtet zum Portrait einer gestörten Weltmacht“. Die USA als einen „rabiaten Hegemon“ vorzuführen, „der zur Durchsetzung seiner weltweiten Vormacht .. über Berge von Leichen geht, .. gelingt dem exzellenten Kenner der jüngeren US-Geschichte so überzeugend, dass eine Entlastung Washingtons kaum möglich erscheint“ (Arno Orzessek, DLF 8.11.21).
Religiöser Eifer, ein missionarisch überhöhter Lokalpatriotismus und hausgemachte Bedrohungsszenarien sind die harmloseren Zutaten einer immergleichen Provinzposse, die, entgrenzt, das Potenzial hat, in Allianz mit einem militaristischen Nationalismus zu halsbrecherischen Strategiespielen von apokalyptischen Ausmaßen zu eskalieren.
Bernd Greiners fundierte und materialreiche Darlegung ist ein dringendes Plädoyer für eine „Schubumkehr“, für ein Konzept zur Zivilisierung von Konflikten, das „die Sprache der Gewalt durch eine Grammatik des Vertrauens ersetzt“ (Greiner) – entgegen einer US-Politik, die jenseits auch nur der Rufweite dieser Vorstellung mit ungebrochener Faszination um ihre Streitkräfte kreist. Bis heute stehen die Anstrengungen von Brandt, Palme und Kreisky, der ‚ultima irratio‘ (Brandt 1971) des Wettrüstens mit einem ernsthaften Entwurf internationaler Zusammenarbeit entgegenzutreten, auf weiter Flur allein da.
Konferieren Sie anschließend gern mit uns bei einem Glas Wein!
Birgit Böhnke und Regina Giese
Bernd Greiner, Historiker, Politikwissenschaftler und Amerikanist, Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zur Geschichte internationaler Beziehungen, ist Gründungsdirektor des „Berlin Center for Cold War Studies“, lehrte Außereuropäische Geschichte an der Universität Hamburg und leitete den Arbeitsbereich „Theorie und Geschichte der Gewalt“ am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er lebt heute in Lübeck.
Eine Veranstaltung unserer Buchhandlung.
Anmeldung erbeten unter buchhandlung@makulatur.com oder 0451-70 79 971
Eintritt 8 EUR. Es gilt die 2G-Regel.
(Foto des Autors: Ekko von Schwichow)