Bücher-Magazin


Das unabhängige Literatur- und Hörbuchmagazin  Nr. 6 Oktober/November 2014

Hier zur ungekürzten Online-Fassung des Interviews vom 17.09.2014

Jakob Johannsen: Sehenswürdig


Stadt-Repräsentation im Web

Kunstprojekt im Rahmen der 'Regionale 2 - Stipendiaten der Kulturstiftung des Landes
Schleswig-Holstein 2011-2013'

Zu betrachten teils im Stadtraum, teils am Overbeck-Pavillon.
An unserer Fassade: Sehenswürdig IV. Keramik-Mosaik

Jakob Johannsen: 'Das Eingeben eines Stadtnamens in eine Internet-Suchmaschine bringt diverse Fotos von unterschiedlichen Autoren, die das gleiche Motiv und den gleichen Blickwinkel nutzen. Was früher ausschließlich ein Phänomen der Malerei war und durch den in Lübeck bekannten 'Malerwinkel' in Erinnerung gerufen wird, hat sich heute in erster Linie in das Gebiet der digitalen Fotografie und des Internets verlagert. Bei einer Analyse des im Internet auffindbaren Bildmaterials wird deutlich, dass die fotografierten und im Internet verbreiteten Architekturen als Ikonen funktionieren, welche Besucher der Stadt und Fotografen anziehen, die ihrerseits wiederum Fotos produzieren und diese verbreiten.

So entsteht ein sich mit dem Internet beschleunigender Kreislauf von Bildproduktion, Verbreitung und Reproduktion der sich immer wiederholenden Motive. Dieses sehenswürdige Bildmaterial betrachtend, kann man sich fragen, was denn das Nicht-Sehenswürdige ist. Ist es das Unbekannte? Ein wichtiger Punkt der Sehenswürdigkeit mag der 'Wiedererkennungswert sein, das Bestaunen des Originals, von dem man schon gehört und auch einmal eine Abbildung gesehen hat.

Meine hier im Stadtraum gezeigten Arbeiten werden als Wand-Keramik-Mosaike Teil der Architektur oder treten in Dialog mit ihr. Sie zeigen Pixel-Abbildungen, die nur durch diesen Wiederer-kennungswert, das kollektive Bildgedächtnis, funktionieren können.'


'Regionale 2'. 20. Juli bis 7. September 2014

Overbeck-Gesellschaft
Kunstverein Lübeck
Königsstraße 11
23552 Lübeck

 

Die Professoren in Zivil


Das Seminar, anlässlich des Universitäts-Jubiläums bei maKULaTUR am 25. Juni 2014

Prof. Dr. Christoph Rehmann-Sutter und Prof. Dr. Christina Schües vom Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Uni Lübeck (IMGWF) in Aktion (Foto: Thomas Berg)

Wunschkinder


Mittwoch, 25. Juni 2014     18:30 – 20:00 Uhr


Seminar im Rahmen des Programms “Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin” bei maKULaTUR

Zum Jubiläum der Universität finden wieder ausgesuchte Vorlesungen und Seminare - im Ganzen elf - in Lübecks Innenstadt statt

Dozentinnen/ Dozenten und deren Studiosi schwärmen zwischen dem 17. Juni und dem 18. Juli in Ladenlokale der Hüxstraße aus, im Angesicht des Publikums zu lehren und zu lernen. Hier nun können Sie Ihr Wissen vertiefen oder umstoßen lassen, mitdis-kutieren, nachhaken, protestieren, hyperventilieren, sich profilieren, kompromittieren, echauffieren oder - je nach Temperament - kennerisch inhalieren und andächtig, auch nachdenklich zuhören.

Bei uns geht es am Mittwoch, dem 25. Juni, 18:30 - 20:00 Uhr, unter der Leitung von Prof. Dr. phil. Christina Schües und Prof. Dr. phil. Christoph Rehmann-Sutter (Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung) um die Reproduktionsmedizin, genauer um eine Frage, welche im Zuge der Unfruchtbarkeitsbehandlung die Regelung der Keimzellspende aufwirft: Soll das Kind erfahren, von wem die Ei- oder Samenspende stammt? Nach der Zeu-gungstheorie des Aristoteles ist der Beitrag des Mannes Form, Geist, die weibliche Zutat Stoff, Materie. Finden misogyne Vor-stellungen unterschwellig Eingang in die Debatte über Ei- und Samenspende?

Das vollständige Programm der Veranstaltungsreihe finden Sie unter http://www.uni-luebeck.de/aktuelles/nachricht/artikel/uni-in-der-huexstrasse.html

Vogelschar


15. April 2014


Felix Scheinberger:
Illustration. 100 Wege, einen Vogel zu malen
erschienen 2013 im Verlag Hermann Schmidt
(s. unter Kunst & Künste)

Der Hermann Schmidt Verlag postet auf facebook:

"Der Preis für die kreativste Schaufenster-Deko geht heute an maKULaTUR in Lübeck, die aus unseren Druckbogen zu »Illustration« eine fliegende Vogelschar kreiert hat ... danke dafür!"

Wir danken dem Verlag, ganz besonders Anne Sauer, für die Makulatur-Bögen, aus denen wir jetzt schon die zweite Schau-fensterversion fabrizieren konnten! Sehen wir uns an, wozu Makulatur sonst noch gut ist.

 

Ostern. Präludien und Refugien


8. April 2014

Aus saisonalem Anlass (und mit Seitenblick auf unsere neue Website-Rubrik 'scandinavia') ziehen wir das schöne kleine Künstlerbuch NESTER aus dem geschätzten Textem-Verlags-programm wieder hervor.

In urbanen Ballungsräumen gibt es Flächen und Quartiere mit Namen 'Mümmelmannsberg', 'Hasenheide' oder - wie hier in Lübeck - 'Kaninchenberg', die auf eine vermehrte Tätigkeit im Untergrund schließen lassen. In Simon Starkes Nestern wird zunächst nichts ausgebrütet, sie liegen verlassen, gebettet in dänische Ferienhausareale und sind (ab hier strikter im Textem-Textlaut) "zum Zeitpunkt der Aufnahme unbewohnt und leer wie das Grab Jesu am frühen Ostermorgen".

"NESTER zeigt Fotos von Häusern, die sich zurückziehen. Häuser im Grünen, wie man so sagt. Häuser hinter Hecken, Häuser hinter Wänden von Gebüsch, Häuser hinter einem Zaun aus Bäumen oder Schleiern von Geäst, Häuser, die sich unter ihr eigenes Dach ducken oder in die Nische eines Restwaldes, Häuser hinten am Rand einer Wiese, Häuser inmitten einer Lichtung, man sieht gerade noch den Fahnenmast, Hütten aus Holz im Gehölz, Häuser weiter weg, ein Rasenstück darum, Zufahrten und ganz hinten ein Haus. Das Idyll ist gar nicht so klein. Aber die Umkehrung der Figur-Grund-Verhältnisse hat auch Nachteile."

Dazwischengemogelt wie Kuckuckseier: vereinzelte Aufnahmen karger Ausstellungsorte. "Wikipedia schreibt: So genannte Easter Eggs sind in Computersoftware undokumentiert eingearbeitete Zusatzfunktionen, die mit dem eigentlichen Programm nichts zu tun haben" und "die der Programmierer bzw. die Produzenten hinter einer Menü- oder Tastenkombination versteckt haben. Das ähnelt dem Verfahren bei NESTER."

Nähere Angaben zum Buch NESTER finden sich - wie gesagt - unter der Rubrik 'scandinavia'.

 

Marie-Luise Scherer im 25. Jahr nach der Hundegrenze


25. März 2014

 

Einer bemerkenswerten Lesung und deren schönem Ausklang mit Marie-Luise Scherer im März nachhorchend und -hängend, weil nicht alle Tage zu haben; das veröffentlichte Oeuvre ist schmal, die Autorin schreibend so selbstkritisch, stilsicher und sparsam wie großzügig im Gespräch:

Woraus sie las, möchten wir noch einmal herausstellen: Sie las an den Ausgangsorten ihrer Recherche aus der bei Matthes & Seitz jetzt neu aufgelegten, als Reportage nur unzureichend bezeichneten 'Hundegrenze'. Die Lesereise von Lübeck über Selmsdorf und Ratzeburg wurde von der Heinrich Böll Stiftung Schleswig-Holstein veranstaltet.

Wehrpflichtige, Wachsoldaten, Grenzaufklärer, Abschnittsbevoll-mächtigte am Boden und auf den Türmen auf der Höhe von Lübeck, Selmsdorf, Ratzeburg, Zivilpersonen hinterm Schlagbaum im Sperrgebiet, eingestreut Jagdkollektive im Scheinwerferlicht, Hunde, aufgereiht in akkurater Taktung - ein nach starrer Cho-reographie hierarchisch aufgestelltes Ensemble schottet an der innerdeutschen Grenze Ost gegen West und kaum weniger effektiv Ost gegen Ost ab. Die innerostdeutsche Zone folgt eigenen Regeln; dass das Muster auf ungenehmigten Streif- und Beute-zügen durchbrochen werden kann, sichert ihren Bestand.

Der verborgene kleine Grenzverkehr in der unfreien Handelszone zwischen den Hundelaufleinenanlagen und Minenfeldern des Todesstreifens und dem Sperrgebiet, das als "Kleinbürgerlichkeit nach Dienstschluss" gebrandmarkte Zubrot durch Tierzucht und sonstigen Nebenerwerb, die Rituale der Übertretung sind einge-übte Akklimatisierungspraktiken der Bewohner, die das elende Schicksal der Hunde an der Trasse buchstäblich nur am Rande berührt.

Die einzige amtlich gewordene kreatürliche Übertretung gelang einem privilegiert irrenden Hund aus Lübeck, einem verwöhnten Zögling der Klassengesellschaft, aus deren vornehmsten Reihen - Tennis spielenden Aristokraten und Industriellendynastien - der "aufreizenden Vorstellung" des Stabsoberfähnrichs Zimmermann zufolge die Bundesgrenzschutzsoldaten rekrutiert würden.

Die existentielle Not der angeleinten Wachhunde auf der schmel-zenden Eisfläche des geteilten Lankower Sees, Inbegriff der Sinn- und Trostlosigkeit, beschließt das sachlich und sprachlich dichte Zeugnis einer Feldforschung, die ohne interpretierende Eingriffe zum Psychogramm eines systematisch eingezwängten Milieus und unter der Hand Marie-Luise Scherers darüber hinaus zu "akuter Literatur" gerät.

 

Marie-Luise Scherer, geboren 1938 in Saarbrücken, war über zwanzig Jahre lang Autorin beim "Spiegel', der sich ihre Lang-samkeit erlaubte, notabene ihre Sorgfalt sich gönnte. Die vor-liegende Reportage erschien erstmals in Heft 6/1994, zehn Jahre später wurde sie in den inzwischen vergriffenen Sammelband      "Der Akkordeonspieler" aufgenommen. Marie-Luise Scherer wurde mit dem Ludwig-Börne-Preis, dem Italo Svevo Preis und dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet.

 

Peter Gente


23. April 1936
bis 8. Februar 2014

"Die Welt ist voller Geräusche. Töne sind Ausnahmen. Hört man einen Ton, treten die Geräusche zurück. Den Ton umgibt eine Stille (...) Vor seinem Verklingen versinkt er wieder ins Geräusch zurück. Wie ruft man einen Ton hervor? Man trifft ihn nie genau.
Die Intonation ist immer unrein. Es kommt nur darauf an, wie lange man braucht, aus dem Rauschen und Geräusch herauszufinden und auf die Ausnahme eines Tons zu treffen." (Hannes Böhringer, Die Intonation der Orgel, in: Orgel und Container, Internationaler Merve-Diskurs 176, Berlin 1993)

Wir denken an eine lange zurückliegende Begegnung mit Peter Gente, Nachbar in Berlin-Schöneberg, im Prater am Prenzlauer Berg. Thomas Kapielskis Nasenflöten-Orchester spielte auf.
Die Intonation war unrein. Die Töne umgab keine Stille.
Mit Peter Gente haben wir uns bei gellendem Lärm am Tresen unterhalten, einander anbrüllend, und behielten bei alledem den Eindruck eines solchen "Tischgesprächs" zurück, wie Boehringer es im Container-Essay beschreibt: "Wie ein Ornament umspielt" es "labyrinthisch die Tafelrunde." Und eines Gesprächspartners, der den rechten Ton hervorrufen, treffen und halten konnte. Nun ist er zurück versunken ins Geräusch. Vor seinem Verklingen.

 

Peter Gente führte den 1970 kollektiv in Berlin gegründeten Merve-Verlag von 1976 an gemeinsam mit Heidi Paris, die sich im September 2002 das Leben nahm. Im Februar 2007 legte er die Geschicke des Verlags endgültig in Tom Lambertys Hände, eine 13stündige Feier im Hebbel-Theater verabschiedete ihn.
Der Verkauf des Verlagsarchivs an das Karlsruher ZKM sicherte ihm ein Auskommen, wenn auch nicht hierzulande, und hätte es ihm seiner Disposition zufolge drei weitere Jahre gesichert.

Das Temperament Peter Gentes und Heidi Paris'  führte dem chronisch unterfinanzierten Verlag illustre Autoren zu, an deren "Einbürgerung" er wesentlich Anteil hatte: die französischen Theoretiker Deleuze, Guattari, Foucault, Blanchot, Virilio, Lyotard, den Sinologen Jullien, flankiert von Cage, Szeemann, Kippenberger, Kluge, Kittler, Böhringer und Autoren aus dem persönlichen Berliner Umfeld wie Zischler, Kapielski, Blixa Bargeld, um nur einige heraus zu greifen.